Es war eine kalte Winternacht gewesen. Schon seit Tagen wurde das Wetter dunkler und ungemütlicher, der Wind herber und das Meer rauer. Lyonel Feininger verkroch sich bei so einem Wetter lieber zu Hause, wenn es ihm möglich war. Draußen, unter den vielen Menschen, war es ihm zu laut geworden.

Dieser Lärm begleitete ihn. Sobald er das Haus verließ, war der Lärm da. Auf dem Weg zu seiner Arbeit, bei seiner Arbeit und nach seiner Arbeit, war da dieser Lärm. Eigentlich arbeitete er nur noch. In der Fabrik, wo er arbeitete, hatten sie neue Maschinen bekommen. Um nicht entlassen zu werden, arbeitete Lyonel Überstunden. Doch ab und zu gelang es ihm, sich einen Spaziergang zu genehmigen. Dafür ging er ans Meer, denn dort waren die Wellen laut genug, um den Lärm der anderen Menschen, die dort ebenfalls spazieren gingen, und den Lärm der Stadt zu übertönen.
An dem Tag waren die Wellen noch lauter als üblich. Da es so kalt war, zog er sich einen warmen braunen Mantel an, einen Hut, um seine Ohren zu wärmen. An diesem Tag schien es, als würde jeder seinen eigenen Weg gehen. Er fühlte sich unwohl unter den anderen Spaziergängern, die ihn nicht weiter beachteten.
Lyonel fragte sich öfter, ob andere Menschen ihn überhaupt wahrnahmen. Denn niemand sah ihn an. Alle schienen vertieft und für sich. Sollte er stehenbleiben und jemanden ansprechen? Er war noch nie die Art Mensch gewesen, die offen auf andere zugehen konnte.
Schon immer bewegte er sich eher im Hintergrund. Auch hier wurde er als Individuum nicht wahrgenommen. Er versuchte, geradeaus zu schauen, den Kopf frei zu bekommen, aber diesmal konnte auch der Spaziergang am Meer nicht helfen.
Warum sahen sie ihn nicht an? Die Frage quälte ihn. Er fühlte sich auf einmal unglaublich einsam. Es wirkte, als hätte es jeder unglaublich eilig, als würde niemand nur hier sein, um den Wellen zu lauschen, sondern um schnell woanders hin zu gelangen.
Auf einmal kam ihm seine Umgebung dunkler vor als noch vor einer Minute. Er atmete tief ein und blieb für einen Augenblick stehen. In diesem Augenblick entschied er sich, dass es Zeit wäre, selber Initiative zu ergreifen. Er würde jemanden ansprechen. Vielleicht würde diese Person froh sein, endlich angesprochen zu werden. Vielleicht wäre Lyonel nicht mehr so distanziert gegenüber seinen Mitmenschen. Vielleicht wären die anderen Menschen nicht mehr so distanziert gegenüber ihren Mitmenschen. Er ging weiter.
In der Ferne erkannte er die Silhouette zweier Frauen. Er richtete seinen Kragen. Versuchte gerader zu stehen. Aufrechter. Er fühlte sich direkt ein bisschen größer. Die Frauen kamen immer näher. Er fing langsam an zu schwitzen. Wieder waren sie ein Stück näher gekommen.
Diesmal konnte Lyonel sie besser erkennen. Eine Frau trug ein langes grünes Kleid und hatte sich ihre dunklen Haare zu einem Zopf gebunden. Die andere Frau war deutlich dunkler gekleidet und hielt etwas in ihrer Hand. Er erkannte, dass es ein Fächer war. Dabei war es doch windig? Wieder ein Stück näher. Lionel überlegte sich seine Worte. Vielleicht würde er fragen, warum die Frau einen Fächer in der Hand habe, obwohl es doch windig sei. Oder er würde fragen, wohin die Damen wollten. Es war fast soweit. Lyonel nahm seine Mut zusammen. Als die Frauen fast vor ihm standen, guckte er jedoch auf den Boden. Der Moment war vorüber, die Frauen gingen an ihm vorbei. Lyonel hatte sie nicht angesprochen.
Er ging weiter, als hätte er nie ein Vorhaben gehabt. Tief im Inneren schämte er sich leicht.
KURZGESCHICHTE von Fenja, J 13 ZUM Bild von Lyonel Feininger (CENTRE GEORGES POMPIDOU)