PoetryMonday #3: Das Märchen von den 16 grauen Ballerinas

Edgar Degas / Musée d’Orsay; Foto: LK J13-DE1, Paris 10.09.2022

Es war einmal ein Opernhaus, das größte und prächtigste in der ganzen Gegend. Es wurde recht gut besucht, doch besonders für den ersten Tag eines jeden Monats waren die Karten schon Wochen vorher ausverkauft und nur die Reichsten konnten sie sich leisten. Grund für diesen Andrang war eine ganz besondere Aufführung, der Tanz der 15 grauen Ballerinas. Ihr Tanzen war unvergleichlich und anmutig, sowohl ihre Kleider als auch ihre Haare waren zwar ganz grau, doch die Zuschauer wurden regelrecht in ihren Bann gezogen. Sie waren schon immer dort gewesen und niemand konnte sich an eine Zeit erinnern, in der die grauen Ballerinas nicht aufgetreten waren.
Auch der Bürgermeister der Stadt, in der das Opernhaus stand, schaute sich regelmäßig die Vorstellung an. Doch eines Tages wurde er überraschend krank und musste zuhause bleiben. Um die Karte war es ihm jedoch zu schade, denn sie hatte ihn doch recht viel gekostet. Da er aber weder Frau noch Kinder hatte, schenkte er sie seiner Dienstmagd, damit diese sie an ihre kleine Tochter geben konnte.

Das Kind freute sich sehr über die geschenkte Karte und ging am ersten Tag des Monats freudig zu der Aufführung. Voller Neugier bewunderte es im Foyer all die prächtig gekleideten Personen, während es selbst in seiner ärmlichen, einfachen Kleidung hatte kommen müssen. Schnell suchte es deshalb seinen Platz in der Loge und blickte aufgeregt auf die roten Vorhänge, die die Bühne noch verdeckten. Nach einiger Zeit öffneten sie sich, die Lichter wurden gedimmt und 15 Ballerinas erschienen auf der Bühne. Sobald sie anfingen zu tanzen, war jeder im Saal gefangen und auch die Tochter der Dienstmagd konnte ihre Augen nicht von ihnen wenden. So verlief die Vorführung und als die Musik verklungen war, schloss der Vorhang sich sofort. Die Forderung des Publikums nach einer Zugabe wurde ignoriert.

Der Saal leerte sich nach und nach, bis nur noch das Kind auf seinem Sitz da saß. Die Ballerinas waren so wundervoll gewesen, dass es beschloss, es wolle sie noch ein letztes Mal anschauen. Deshalb lief das Mädchen schnell zu der Bühne und schlüpfte unter dem Vorhang hindurch. Doch als sie sah, was dahinter geschah, traute es seinen Augen kaum: Die Ballerinas tanzten nicht mehr auf der Bühne, sondern schwebten durch die Luft und führten ihre Tänze in der Höhe fort! Fasziniert starrte das Mädchen die Tänzerinnen an, die es nicht zu bemerken schienen. Inspiriert von den eleganten Bewegungen versuchte das Kind, diese nachzuahmen und wirbelte mit seinen Armen und Beinen so umher, wie auch die anderen es taten.

Vertieft in seinen Tanz wagte das Mädchen sich immer weiter auf die Bühne und nach und nach drehten sich die grauen Ballerinas zu ihm um und beobachteten ruhig seinen Tanz. Bald hatten sie sich alle um das Mädchen versammelt und schauten schweigend darauf hinunter. Plötzlich bemerkte sie dies und hielt erschrocken inne.

Daraufhin schwebte eine der Ballerinas mit langen Haaren und freundlichen Augen auf das Mädchen zu und nahm seine Hände. Das Kind fing an, sich seltsam zu fühlen und eine angenehme Wärme breitete sich in ihm aus. Als es von dem Gesicht der Ballerina wegsah, bemerkte es, dass es sich einige Meter über dem Boden befand! Sie schwebte! Erstaunt schaute die Tochter der Dienstmagd umher und die anderen Ballerinas erwiderten ihren Blick mit einem Lächeln.
Alle begannen zu tanzen und wie von selbst bewegte sich das Mädchen mit, bald schon ganz alleine. Bis zum Morgengrauen tanzten sie so weiter, bis das Kind wieder nach Hause musste.

Von nun an wartete das Mädchen jeden ersten Tag des Monats vor dem Opernhaus, bis die Aufführung beendet war und schlich sich danach zu den Ballerinas, um mit ihnen zu tanzen und sein Können zu verbessern. Irgendwann wurde es so gut, dass die Tänzerinnen beschlossen, das Mädchen in ihre Gruppe aufzunehmen.

Bei der ersten Aufführung saß auch der Bürgermeister im Publikum und für einen kurzen Moment fürchtete sie, er würde sie erkennen. Doch dieser dachte sich, dass das Kind einer einfachen Dienstmagd es niemals in diese Gruppe edler Tänzerinnen schaffen könne und erkannte es nicht.

Das Mädchen jedoch konnte inzwischen so gut tanzen, dass es perfekt zu den anderen Ballerinas passte. Von diesem Tag an musste das Kind nicht mehr die Aufführung der 15 grauen Ballerinas abwarten, bis es das Opernhaus betreten konnte. Von nun an ging es vor allen anderen in den Saal, um als ein Teil der grauen Ballerinas aufzutreten, die zu den 16 grauen Ballerinas geworden waren.

Ein Märchen von Lydia

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