09.12. – Ausgenutzt, abgehängt, alleingelassen: Ein Besuch der „Woyzeck“-Inszenierung im Theater Bremen

Ein etwas anderes Publikum als gewohnt sah den Darstellern des Theaters am Goetheplatz am vergangenen Dienstagabend zu. Das Publikum im fast ausverkauften Bremer Theater bestand nahezu vollständig aus Oberstufenschülern, darunter unsere Deutschleistungskurse im Jahrgang 12 unter der Leitung von Frau Baden und Frau Vollmer-Eicken.

Aufgeführt wurde das Fragment gebliebene Sozialdrama „Woyzeck“, verfasst von Georg Büchner im Jahr 1836, das Schwerpunkt im niedersächsischen Abitur 2024 ist. Ein mutmaßlich nicht ganz zeitaktuelles Stück Literatur (aus Schülersicht). Jedoch handelt es sich bei „Woyzeck“ genau um das Gegenteil (auch aus Schülersicht). Aufgrund seiner gesellschaftskritischen Inhalte und der im Fragment thematisierten Werte baut „Woyzeck“ eine große Zeitlosigkeit auf. Diese wurde auch in der zunächst gewöhnungsbedürftigen, weil sehr modernen Darstellung des Dramas verdeutlicht. Das Bremer Theater hatte sich entschlossen, „Woyzeck“ mit „Bühnenmusik“ – den Songs aus Tom Waits düsterer Woyzeck-Vertonung „Blood Money“ (2003) zu inszenieren; mit hinter der Kulisse schwebender virtuoser Liveband.

Büchners Dramenfragment eignet sich wegen seiner Zeitlosigkeit, seiner ungebrochenen Aktualität und seines Facettenreichtums hervorragend, um zu überprüfen, wie es darin mit den in unserem diesjährigen Adventskalender im Fokus stehenden Werten „Solidarität“ und Nächstenliebe“ steht.

Woyzeck (Simon Zigah) ist ein einfacher Mann, Soldat aus der Unterschicht, der großen Einsatz zeigt, um genügend Geld für seine Geliebte Marie (auch stimmlich sehr überzeugend: Annemaaike Bakker) und sein uneheliches Kind zu verdienen, dafür sogar seinen eigenen Körper für die verrückten Experimente eines fanatischen Doktors (Guido Gallmann) zur Verfügung stellt. Lediglich sein Freund Andres (Martin Baum) zeigt Verständnis und versucht, Woyzeck zu verstehen. Gespött der höheren Schichten, der Außenseiter unter den Außenseitern: das ist Franz Woyzeck.

Von Solidarität, Nächstenliebe oder Treue ist das Drama nahezu frei. Trotz seines Engagements wird Woyzeck von Marie mit dem Tambourmajor (Claudius Franz) betrogen, sein Hauptmann (in einer Hosenrolle: Susanne Schrader) macht sich über ihn lustig und zeigt kein Verständnis für Woyzecks Eile, denn er selber verfügt über ausreichend Zeit zum Totschlagen, während Woyzeck keine Minute verschenken kann, seinem Arzt, der ihn sadistisch Erbsen essen lässt, geht es nur um das Wissenschaftsobjekt Mensch, nicht aber die darin befindliche Person. Woyzeck steht als herumgestoßene und missachtete Hauptfigur im Zentrum der Aufführung und zeigt zunehmend charakterliche Veränderungen, die sich in Wahnvorstellungen äußern.

Das kaltherzige Umfeld führt letztendlich zu einem destruktiven Verhalten Woyzecks, die Folge: Er wird zunehmend psychotisch und tötet schließlich Marie im Wahn. Für Woyzeck gibt es anders als in dem zu Beginn der Aufführung durch den gegenüber der Vorlage deutlich aufgewerteten „Idioten“ Karl (Peter Fasching) erzählten Märchen „Die Sterntaler“ kein Happy End. Für Woyzeck tritt ein, was im „Märchen der Großmutter“ (Szene 19 im Fragment) erzählt wird: „Da sitzt e(r) noch und ist ganz allein.

Obwohl die Vorlage keinen echten Sympathieträger hervorbringt, gelingt es Simon Zigah in der Titelrolle, beim jungen Publikum echte Empathie für diesen einsamen, suchenden Außenseiter zu erzeugen.

Wenn man vermutet, dass dies lediglich Themen des 19. Jahrhundert sind, liegt man gründlich falsch. Auch wenn wir es uns anders wünschen: In unserer heutigen Gesellschaft gibt es viele Menschen, die ausgegrenzt, missbraucht oder ausgebeutet werden, die sich als Aussenseiter empfinden und keineswegs die Werte der Nächstenliebe und Solidarität in ihrem Alltag spüren. Dem muss sich bewusst werden, nicht nur in der Zeit des Jahres, in der diese Werte am meisten in den Fokus rücken: der Advents- und Weihnachtszeit.

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