Großbritannien fängt an, den Brexit als falsche Entscheidung anzusehen
Kein Thema spaltet die britische Bevölkerung immer noch so sehr wie der Brexit – schon 2016 mit der Verkündung des Ergebnisses des Referendums, durch das sich der Austritt oder Verbleib aus der EU entscheiden würde, wurde die im vorherigen Wahlkampf deutliche Spaltung der Gesellschaft in politischen Themen bestätigt. 48% der Britinnen und Briten stimmten für den Verbleib in der EU, eine knappe Mehrheit von 52% jedoch für den Austritt. Nach einem Wechsel in der Downingstreet 10 von Theresa May zu Boris Johnson als neuen Premierminister und langen Verhandlungen mit der EU wurde der Brexit am 31.01.2020 offiziell: Großbritannien war kein Teil der europäischen Union mehr. Doch wie die 48% der Bevölkerung vorausgesagt hatten, trug dies nicht zu besserer wirtschaftlicher Entwicklung der Insel bei und immer mehr Bürgerinnen und Bürger bemerkten, dass die von den Brexit-Befürwortern versprochenen Vorteile eine reine Farce gewesen waren. Dann kamen auch noch die Pandemie und nun die Energiekrise hinzu, die das Vereinigte Königreich gemeinsam in Richtung Rezession treiben. Eine finanzielle Unterstützung in diesen schwierigen Lagen der EU gab es dabei nicht mehr – das Land ist auf sich alleine gestellt, wie es dies eigentlich wollte. Spricht man mit den Menschen in Großbritannien heute aber über den Brexit, wird der Kopf geschüttelt, mit den Augen gerollt oder tief geseufzt, denn immer mehr Menschen sehen ein, dass der Brexit doch ein großer Fehler gewesen sein könnte.
Mit Inkrafttreten des Brexits Anfang 2020 – womit nach vier Jahren verschiedenster Verhandlungen und Vorschlägen für die Durchführung niemand mehr gerechnet hatte – geriet das Vereinige Königreich in eine wirtschaftliche Abwärtsspirale. Ausländische Fachkräfte mussten ausreisen, neue konnten nur schwer einreisen. Vor allem im Transportwesen und öffentlichen Nahverkehr fehlen mach wie vor Fachkräfte, sowie in der Pflege.
Dies rächte sich bitter in der darauffolgenden Corona-Krise. Großbritannien hält mit knapp 200.000 Corona-Toten den traurigen siebten Platz der Länder, in denen am meisten Menschen an dem Virus gestorben sind. Mehrfach war und ist das Gesundheitssystem immer noch kurz vor dem Kollaps, da es schon seit Jahren chronisch unterfinanziert und unterbesetzt ist. Nebenbei wirken die schon zu viel geringen Löhne für Pflegepersonal in Deutschland fast luxuriös verglichen mit Großbritannien – die Situation ist so dringlich, dass NHS – National Health Service – Angestellte sogar Rabatt in vielen Restaurants bekommen.
Vor allem aber die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie gleichzeitig mit denen des Brexits belasten den Staat seit nunmehr knapp drei Jahren. Durch den Lockdown in Großbritannien selber, aber auch durch die Lieferengpässe ausgelöst durch Corona-Maßnahmen anderer Staaten, wurde das System des Landes mit vielen Schulden belastet, um die Lage zu entschärfen zusätzlich waren viele Waren und Dienstleistungen schlichtweg nicht erhältlich oder über längere Zeit knapp, wie beispielsweise Benzin und Diesel 2021.
Als wäre das nicht genug, belasteten schon während der Pandemie vor zwei Jahren hohe Preise die britische Bevölkerung durch striktere Einfuhrregelungen, die Importware auch aus der EU von nun an verteuerte. Dies führte jedoch noch nicht zu dem Gefühl von Reue mit Blick auf den Brexit – man glaubte weiter an die im Voraus von den Befürworterinnen und Befürwortern verbreitete
„Propaganda“, dass der Brexit der englischen Wirtschaft helfen würde, entgegen der Berechnung vieler Ökonominnen und Ökonomen aus aller Welt.
Viele Menschen in England fragen sich heute rückblickend, wie diese Propaganda bei dem Menschen Gehör finden konnte. Schließlich machten einige „Fakten“, was man durch den Brexit als Land sparen könne, gleich einen unglaubwürdigen Eindruck. Laut Berechnungen der Befürwortenden könne man die wöchentlich bis zu 350.000.000 an Brüssel gezahlten Pfund sparen – eine These die auch vom ehemaligen Premierminister Boris Johnson vertreten wurde.
Dennoch gaben diese Zahlen den Britinnen und Briten einen Grund, ihren tiefen Wunsch, eigenständig und unabhängig von anderen Ländern zu sein, endlich zu verwirklichen. Seit die vier Länder Wales, England, Schottland und Nordirland in der EU sind, gab ununterbrochen es starke Strömungen, die sich gegen die Union stellten und ihr vorwarfen, man respektiere nationale Entscheidungen nicht mehr und sei von ihr bevormundet, was nebenbei auch noch verhindere, dass man in das eigene Land dort investieren könne, wo es am notwendigsten sei. Die EU war für viele Menschen für die Probleme Großbritanniens verantwortlich. Insbesondere aber war die Migrationspolitik der EU der britischen Bevölkerung ein Dorn im Auge – man wollte mehr Kontrolle über die eigenen Grenzen und strengere Kontrollen gegenüber illegalen Einwandernden durchsetzen, da ein Großteil der Bürgerinnen und Bürger Sicherheitsbedenken hatte.
Der Brexit bot ihnen dabei auch die Möglichkeit, umstrittene Projekte, beispielsweise die geplanten Abschiebungen jeglicher Asylsuchender nach Ruanda – ungeachtet ihres wahren Herkunftslandes – das dafür bezahlt wird, diese aufzunehmen. Als EU-Mitgliedstaat hätte das Land es schwieriger gehabt, dieses oftmals als menschenunwürdig kritisiertes Projekt durchzusetzen und noch weniger Flüchtlinge als sowieso schon aufzunehmen, da es nach Deutschland die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU war und die finanziellen Mittel für viele Aufnahmen von Flüchtlingen hatte. Brexit-Befürworterinnen und Befürworter nutzten jedoch genau dies aus und schürten Angst, Migrantinnen und Migranten könnten der britischen Bevölkerung die Arbeitsplätze wegnehmen, was angesichts des nun herrschenden Fachkräftemangels schier falsch ist.
Ein weiterer Fakt, der bei der Bestätigung des Brexits von der Bevölkerung jedoch ignoriert wurde, ist, dass die EU Hilfen bereitstellt, auch während der Corona-Pandemie, um die Mitgliedstaaten genau vor dieser wirtschaftlichen Krise zu schützen, auf die das Vereinigte Königreich gerade zusteuert. Natürlich, wenn man die EU als Staat verlässt, muss man kein Geld mehr für bestimmte Zwecke einzahlen, andererseits muss man neben genannten finanziellen Hilfen in Notsituationen alle anderen benötigten Summen selber arrangieren, wenn es beispielsweise um Grenzkontrolle und Warenverkehr geht, sowie bei der Landwirtschaft und Klimaschutz, wobei immer mithilfe der EU viel in diesen Bereichen in Großbritannien finanziert wurde.
Folglich ließ das wirtschaftlich schlechte Jahr 2022 dann aber sogar bekannte Brexit-Befürworterinnen und Befürworter zurückrudern und einräumen, dass einige damals erklärte Fakten schlichtweg falsch gewesen seien und man sich nun für mehr Kommunikation mit der EU einsetzen müsse – 42% der Menschen, die 2016 für den Brexit stimmten, bereuen es nun.
Denn mit Beginn Russlands, in die Ukraine einzumarschieren, und der starken Erhöhung von Energie- und somit Produktionskosten, stiegen die schon hohen Preise Großbritanniens weiter und auch die Inflation zog an – die Inflationsrate liegt im November bei 11,1%, der Pfund befindet sich auf einem Tief im Wert im Vergleich zu Euro, der Mindestlohn aber nur bei umgerechnet 11 Euro, ein Euro weniger als in Deutschland. Die britische Regierung hat nur eine Möglichkeit zur Entlastung der Bürgerinnen und Bürger – weitere Schulden. Die Hilfen und Restriktionen der EU bekommt sie nicht und helfen ihr schließlich nicht mehr, wie die geplante Gaspreisbremse.
Im Bezug auf Schulden und Steuern hat Großbritannien diesen Herbst Schlagzeilen gemacht: die Nachfolgerin Boris Johnsons im Amte des Premierministers oder der Premierministerin, Liz Truss, wollte die Steuern für die reiche Oberschicht senken, trotz aller Schulden. Ihr Vorschlag sah keinen Ausgleich für das ausbleibende Geld vor, sodass die Finanzmärkte abstürzten. Nach dem Finanzminister und der Innenministerin trat Truss nach 45 Tagen im Amt zurück. Da sich dies angedeutet hatte, ging im Internet eine Wette viral: Wer hält sich länger, ein Kohlkopf oder Liz Truss – wie es scheint, hat der Kohlkopf gewonnen. Dies alles geschah, nachdem Boris Johnson nach einer Reihe von Fehleinschätzungen und Fehlverhalten zurückgetreten war. Vor allem Partys während des Lockdowns und die Beförderung eines Parteikollegen, obwohl Johnson wusste, dass es gegen ihn Vorwürfe der sexuellen Belästigung gab, waren die Auslöser.
Aber wie man an der Kohlkopfwette sieht, die Britinnen und Briten nehmen es mit Humor, dass niemand weiß, wie lange sich die nächste Regierung hält. Doch diese Regierungskrise hat auch Folgen: In Großbritannien wenden sich immer mehr Menschen von der Politik ab – es scheint für sie, als könnten sie nichts mehr mitentscheiden – viele Menschen hatten sich nach Johnson’s und auch Truss‘ Rücktritt Neuwahlen gewünscht, da sie der Politik der regierenden Tory-Partei nicht mehr zustimmen, diese will aber keinen Verlust der absoluten Mehrheit an den bittersten Gegner, die Labours, riskieren, sodass sowohl Truss selber als auch der aktuelle Premier, Rishi Sunak, parteiintern ernannt wurden.
Einigen Menschen reicht es in Großbritannien aber auch mit Brexit-Problemen und Regierungs-Chaos endgültig, vor allem in Schottland. Dort hat die Mehrheit 2016 für den Verbleib in der EU votiert, da das Ergebnis aber für das ganze Königreich zusammengerechnet wurde, musste man sich unterordnen und beim Brexit mitmachen – was jetzt bereut und offen kritisiert wird.
Schon 2014 hatte Schottland ein Referendum über die eigene Unabhängigkeit gehalten, da immer schon sehr viele Menschen ihr Land vollkommen souverän und unabhängig sehen wollten, wobei sich aber 55% für den Verbleib im Vereinigten Königreich entschieden hatten.
Nicola Sturgeon, Regierungsoberhaupt in Schottland, wollte nächstes Jahr ein erneutes Referendum abhalten, da sie und ihre Partei, die SNP, sich mehr Zustimmung zur Unabhängigkeit durch die Folgen des Brexits erhoffen.
Der Oberste Gerichtshof hat dies nun gekippt, da man es nur mit Zustimmung der britischen Regierung durchführen dürfe, was diese jedoch strikt ablehnt. Vielleicht sogar, weil dieseweiß, dass das Ergebnis noch enger werden könnte als das letzte Mal.
Sturgis sagte nach dem Urteil, dies beweise, dass Schottland als Staat im Vereinigten Königreich genau dieses Referendum brauche, da man sonst keinerlei Entscheidungsfreiheit habe und sich immer unterordnen müsse – das Bündnis Englands, Schottlands, Wales, und Nordirlands sei kein freiwilliges mehr. Nächstes Jahr im Februar soll das Referendum trotz Gerichtsurteil nach Sturgis‘ Vorstellungen stattfinden.
Großbritannien gleicht ein wenig einem Scherbenhaufen. Energie, Lebensmittel und Wohnraum sind noch schlechter zu bezahlen als in Deutschland, die Obdachlosigkeit steigt rasant. Das Land schlittert nach Regierungskrise, Brexit, Energiekrise und Corona in eine Rezession.
Dies ist vor allem für Expertinnen und Experten keine Überraschung, jetzt da das Land auf sich allein gestellt ist. Vor dem entscheidenden Referendum hatten viele Bürgerinnen und Bürger nur die möglichen Vorteile gesehen und die zur Zeit weit aus größeren Nachteile ignoriert. Niemand in Großbritannien weiß, wie sich die politische und wirtschaftliche Lage mit Blick auf den Wohlstandsverlust, Fachkräftemangel, strengerer Migrationspolitik und Teilen des Landes, die unabhängig sein wollen, um wieder in die EU einzutreten, entwickelt. Es ist ein bisschen wie ein Glücksspiel, das man zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr gewinnen kann – man kann es nur gerade so schaffen, nicht zu verlieren.
Paula Holste
Ein Kommentar zu “Ihr bereut es doch, nicht wahr?”