Für unser tägliches Corona-Tagebuch haben wir Herrn Kreier interviewt, einige kennen ihn noch als Lehrer oder Kollegen der Eichenschule, der schon nun seit mehr als drei Jahren in Vietnam als Lehrer tätig ist. Teil 2 erscheint morgen am Dienstag. Hiermit danken wir ihm nochmals für das Interview.
1. Welchen Beruf haben Sie in Vietnam?
Ich bin Lehrer, habe ein Jahr als Lehrer an der deutschen Schule in Ho Chi Minh City gearbeitet, als Physik-, Mathe- und Ethiklehrer. Und die Holzwerkstatt geleitet. Seit drei Jahren bin ich nun an einer Amerikanischen Internationalen Schule und unterrichte Physik und allgemeine Wissenschaft in der Oberstufe für Klasse neun, zehn und IB Physics für Klasse elf und zwölf.
2. Wie lange leben Sie schon dort?
Vier Jahre.
3. Gefällt Ihnen die Schule in Vietnam oder Deutschland besser?
Das ist eine schwierige Frage. Es ist unterschiedlich von Möglichkeiten und Varianten des Unterrichts. Interessant ist es von der Gesellschaft her, weil die Wertschätzung für Lehrer um einiges höher ist als in der westlichen Kultur. Die Eltern und Schüler haben sehr hohen Respekt vor Lehrern, und die Schüler lernen gerne. Bildung wird ein sehr hoher Wert zugesprochen. Die Schüler wollen gute Noten haben, damit sie einen guten Eindruck beim Lehrer hinterlassen und mit ihm zusammenzuarbeiten. Die Zivilisation in Europa könnte davon lernen. Die Motivation ist in Vietnam zwar deutlich höher, ein Nachteil ist, dass sie immer genau das machen, was gesagt wird. Das ist auch kulturell bedingt. Wenn es allerdings darum geht, kreativ zu sein, wissen sie oft nicht, was sie machen sollen. Bei Matheaufgaben lösen sie die schwierigsten Aufgaben, aber wenn ich eine Alltagssituation einbringe, wo diese Prinzipien angewendet werden, können sie diese nicht lösen. Das ist weit weniger extrem an den vielen internationalen Schulen in Vietnam, denn dort wird das unabhängige und problemorientierte Denken eingebracht, was man ja später im Leben auch tatsächlich braucht.
4. Wie wurde dort das Leben wegen Corona eingeschränkt bzw. wie hoch sind die Zahlen?
Die Geschichte Vietnams und Chinas ist eng miteinander verflochten, und so ist es auch die Kultur. China hat in vergangenen Jahrhunderten viele Jahre große Teile des Landes unter Kontrolle gehabt. Beide Länder haben mehr als 1400 Kilometer gemeinsame Grenze.
Es gibt ja ein chinesisches Neujahrsfest, dieses Jahr wurde es Ende Januar gefeiert. Während die Chinesen langsam nach Hause fuhren, um das Fest zu feiern, hatte Vietnam das ,,Tet-Fest“ zum gleichen Zeitpunkt. Das waren 2 Wochen schulfrei ab Mitte Januar, als die Infizierten Zahlen in China hochgingen. Es sind auch hier alle in den Urlaub gefahren und Ende Januar, am Freitag bevor die Schule nach den Feiertagen wieder beginnen sollte, hatten wir zwei Fälle bei 94 Millionen Einwohnern. Eine internationale Schule mit vielen koreanischen Schülern hatte den Unterricht schon wieder begonnen. Am Samstag, den 1. Februar, kamen 4 Infizierte im Land hinzu, und das Bildungsministerium hat alle Schulen im Land für eine Woche geschlossen. Bei 6 Infizierten im ganzen Land! Die Entscheidung reflektierte auch die Angst der Bevölkerung und Eltern. Eine Woche später wurde wieder um eine Woche verlängert, bei ca. zehn Fällen. Wir dachten jedes Mal die Schule würde öffnen und wir würden die Schüler wiedersehen, bei den geringen Infizierten Zahlen. Doch dann wurde nochmals um zwei Wochen verlängert. Unsere Planungssicherheit war damit weg.
Zehn Tage kann man regulären Unterricht problemlos durch Online- Lernen ersetzen. Es ist aber nie so effektiv wie 1:1 Lernen. Es wurde immer weiter verlängert, verlängert, verlängert und wir haben jetzt 270 Fälle im ganzen Land und noch keinen Toten. Es gibt 170 Länder, die haben mindestens einen, zwei, tausend, zehntausend Tote, Vietnam – fünfzehn größtes Land der Welt von der Bevölkerung – größer als Deutschland, Frankreich, Spanien. Nicht ein Einziger ist hier an Corona gestorben. Gleichzeitig gibt es aber einige Auswirkungen für uns. Wir hatten seit dreizehn Wochen keine direkte Schule mehr. Das heißt alles nur online. In den ersten sechs Wochen haben wir digitale Aufgaben erstellt, Arbeitsblätter zum Ausfüllen hin- und her geschickt. Dann sind wir für fast alle Klassen auf Videostream gegangen, um Live-Meetings zu haben und unsere Schüler zu sehen. Und dass sich die Schüler auch gegenseitig sehen. Wir mussten die Anforderungen im Laufe der Zeit immer weiter herunterschrauben. Die Motivation, wenn ich vor meinem Laptop sitze, ist eben nicht so hoch wie die, wenn ich in der Schule bin, weil ja auch die soziale Komponente verloren geht.
Das öffentliche Leben hat sich immer weiter eskaliert, es wurden Kinos geschlossen, dann Bars, es gab eine Kontaktverbot-Empfehlung ab Anfang April für 3 Wochen. Als gutes Beispiel für Lehrer haben wir versucht, nicht rauszugehen. So sehen wir selbst, was es bedeutet, wenn man zwei Wochen versucht drinnen zu bleiben. Und sich nicht auf einen Roller setzt und durch die Stadt fährt. Das ist ja zum Glück vorbei. Es ist schön, draußen zu sein, eine Runde joggen oder spazieren zu gehen. Einige unserer Schüler haben das Haus seit 3 Monaten nicht verlassen!
5. Was unterscheidet Ihre aktuelle Schule von der Eichenschule? Und was können Sie der Eichenschule empfehlen?
Der erste Unterschied ist die Sprache, alles ist in Englisch. Es heißt zwar Amerikanische Schule, aber die Schüler sind zu 99% Vietnamesen. Das ist eine Herausforderung auch für die Schüler, denn die Sprache, der Aufbau, die Struktur, die Satzbildung im Englischen ist deutlich anders als in Vietnamesisch – oder anderen asiatischen Sprachen. Insofern stellt es eine große Herausforderung für Asiaten da, Englisch zu lernen und zu verstehen. Gleichzeitig ist die Zukunft, Arbeit, Ausbildung, Job und große Firmen damit verbunden, insofern gibt es einen starke Motivation, Englisch zu lernen. Es gibt an jeder Ecke amerikanische bzw.
englische Schulen. Language centers. Wenn man aus Amerika oder Kanada kommt, kann man als Englisch-Lehrer schon fast anfangen. Man spricht nur die Sprache und bekommt einen Job.
Ich versuche seit vier Jahren vietnamesisch zu lernen, es ist richtig schwer, die Sprache zu lernen, insbesondere die Tonhöhen. Es ist aber auch schwierig für die Vietnamesen, uns Ausländer zu verstehen, weil sie es nicht gewohnt sind, dass Leute schlechtes Vietnamesisch sprechen, entweder sie sprechen vietnamesisch oder sie sprechen es nicht. Während es bei Englisch viele Akzente gibt, die man raushört: mexikanischen, deutschen oder französischen. Die Leute sind gewohnt, schlechtes Englisch zu hören, und versuchen zu verstehen, was gemeint ist. Bei Vietnamesisch gibt es das nicht. Gleichzeitig dauert es weitaus länger, die Sprache zu lernen. Die Eltern können meist kein Englisch, wollen aber, dass die Kinder das lernen. Die Eltern haben großen Respekt für die Arbeit der Lehrer – aber das ist an der Eichenschule ebenfalls so. Die Eltern arbeiten gern mit den Lehrern zusammen, auch wenn oft ihre Kinder am Elternabend als Übersetzer agieren.
Eine große Herausforderung ist das Curriculum. In Deutschland haben wir für jedes Bundesland einen Lehrplan. An amerikanischen Schulen gilt zum Teil: ,,Mach, was du willst – oder für sinnvoll hälst.“ (Common core und NGSS gibt es erst seit wenigen Jahren). Was eine Herausforderung für internationale Schulen ist: Wenn jeder macht, was er will, wo kann ich dann darauf aufbauen? In Physik, elfte, zwölfte Klasse brauche ich Geschwindigkeit, Beschleunigung und Entfernung und entsprechend Ableitungsfunktionen aus Mathematik. Das wird aber mitunter erst in der zwölften Klasse unterrichtet. Abstimmung über Themen gibt es nicht. Wir fangen in Deutschland mit Physik in Klasse fünf und sechs an. Elektrizität, Magnetismus, Optik usw. Hier haben wir allgemeines “science” ab Klasse fünf. Das beinhaltet aber eher Projekte wie ein Rube Goldberg in Klasse 8: Beginnend mit einem Domino und mehrere einfache Maschinen bis zum Beispiel zu einer Murmel, die am Ende auf einen Taschenrechner fällt und ein Ergebnis anzeigt. Macht Spaß, das Ding zu bauen, wäre natürlich noch besser, wenn du das auch erklären könntest, welche Kraft, welche Beschleunigung an welcher Stelle wie hoch ist, wie sie berechnet wurde, was zu verbessern wäre. Diese Maschinen funktionieren nicht immer. Viele Schüler sagen dann: “Es hat irgendwie einfach nicht funktioniert.” Das ist wissenschaftlich aber zu oberflächlich. Ich würde gerne wissen, ,,die Beschleunigung war zu gering, die Reibung meiner Aufhängung hätte verbessert werden müssen, ich habe deshalb noch einen Gummiring, der eine Zusatzkraft von 2 Newton gebracht hat, eingebaut“, etwas in die Richtung.
Das Grundlagenwissen mathematisch und physikalisch in der elften und zwölften Klasse ist ziehmlich schwach, was eine Herausforderung fürs Unterrichten darstellt. An internationalen Schulen wird das Schreiben von Curricula von Lehrern selber erwartet, wobei man nicht weiß, was in Mathe in Klasse sieben unterrichtet wird. Das ist eine Zusatzbelastung, es gibt zwar mehr Freiheiten aber besonders am Anfang ist es auch sehr viel Arbeit.
Bei der Benotung muss man in Deutschland wenigstens 50 Prozent der Note haben, das reicht für eine Vier und ,,bestanden“. Im letzten Jahr mussten die Schüler hier mindestens 60 Prozent haben. Das klingt strenger, doch dann wurde eine Regel eingeführt, dass ich als Lehrer nie weniger als fünfzig Prozent eintragen darf. Nehmen wir an, du machst nichts, bekommst du fünfzig Prozent. Für Nichtstun. Mathematisch wird irgendwas ziemlich hin- und hergeschoben. Man setzt darauf, dass Schüler nicht mehr sitzen bleiben sollen. Es gibt kein einheitliches Notensystem wie in Deutschland. Im Moment verschiebt sich vieles in Richtung Projekte. Ich habe einen Lehrgang für Design mitgemacht, das gibt es als Unterrichtsfach ab Klasse 5 und kann eventuell auch für 11/12 gewählt werden. Mir gefällt der Ansatz sehr gut, die einzelnen Schritte, Fehler, Reflektion und was man daraus lernt, wie man es besser machen kann, all das steht eher im Mittelpunkt als das abschließende Produkt. Viele Schüler zögern eine finale Arbeit lange hinaus, wollen dann am letzten Tag ganz viel Zeit und Kraft investieren und abliefern – und es ist nicht gut. Kann es ja nicht, es fehlen die Zyklen, um zu sehen was nicht gut ist und verbessert werden könnte. Und dann daran arbeiten. Vieles in unserer Mittelstufe, jetzt MYP, ist projektorientiert abgeändert. Die Leistungstests gehen in die Richtung: Schüler müssen ein Projekt machen und werden für die Schritte beurteilt, bekommen Feedback oder Rückmeldung, so dass viele Noten keine finale Beurteilung, sondern eher “Messwerte” und Feedback zum aktuellen Stand sind.
Wir arbeiten in science zur Zeit an zwei großen Projekten in Form von GRASP (Goal Role Audience Situation Product – https://sites.google.com/ais.edu.vn/grasps). Man hat ein Ziel, eine Rolle, die der Schüler einnehmen soll, wir hatten z.B. eine Verunreinigung von 500 Kilogramm Salzsäure, die versehentlich in einen lokalen Teich eingeleitet wurden. Die Schüler sollten eine Lösung finden und vorschlagen. Die Rolle war: ,,Du vertrittst eine Firma, ,,Chemicals International“. Du sprichst vor der Stadtverwaltung und hältst eine Präsentation mit Voiceover.“ Die Aufgaben, die man erfüllen muss, reflektieren zukünftige Anwendungsszenarien, wenn du mal arbeitest. Macht insofern Sinn, weil wir unter anderem viele Schüler haben, die mitunter nicht so gut in Mathe sind. Sie sollen aber später in der Firma der Eltern arbeiten. Die Eltern hingegen haben einen Buchhalter in der Firma, der sich um die Zahlen kümmert, sodass die Schüler diesen Teil nicht zwingend beherrschen müssen. Stattdessen arbeiten sie an Projekten, bei denen man ein Produkt entwickelt und verkauft. Zum Teil wird das schon in Klasse 4 unterrichtet, unternehmerisches Denken. Projektorientiertes Lernen wird immer mehr Teil des Unterrichts wird und der Prozess beurteilt und das Endprodukt als Feedback gewertet. Diese Strategie soll immer mehr in den Unterricht integriert werden und das Rezitieren von Daten und Fakten ersetzen. Die Zukunft ist auch für Lehrer ungewiss, ich kann keine Fragen stellen, die wir in zehn Jahren haben werden. Um aber auf die Zukunft vorzubereiten kann ich Schülern beibringen, welche Fähigkeiten sie brauchen, um Probleme zu lösen.