Kriegsgebiet Supermarkt
Gestern morgen war es so weit, ich hab mich endlich in den Supermarkt gewagt.
Ich weiß, das klingt jetzt so, als ob ich entweder todesmutig oder lebensmüde wäre, doch weder noch. Es geschah wie folgt:
Es ist zehn Uhr abends, als Person X plötzlich anfängt zu schreien. Ich sprinte natürlich sofort hin, hätte ja sein können, dass sie gehustet hätte oder ähnlich Schlimmes. Mit dem Fieberthermometer in der Hand renne ich also los. Es braucht genau vier mal „Hilfe“, bis ich sie finde. Es ist das Bad. Genauer gesagt sitzt Person X auf der Toilette, das Gesicht tränenverschmiert und angstvoll verzerrt. Ich begreife sofort, das Fieberthermometer fällt mir aus der Hand und zerbricht. Mist, jetzt haben wir nur noch eins für jeden von uns und Susie, unser Hund, muss wohl ohne klarkommen. Wenn sie also an Duweißtschonwas stirbt, ist es jetzt offiziell meine Schuld.
Ich blicke zurück zu Person X, die das Thermometer offensichtlich nicht bemerkt hat. Gut so, denn sonst hätte ich bestimmt einen Haufen Ärger bekommen. Wobei… wenn ich die Situation hier richtig gedeutet habe, kommt X hier so schnell nicht mehr weg. Fast muss ich lachen, wäre die Situation nicht so ernst. Das, wovor wir uns so lange gefürchtet haben, ist nun Realitiät geworden. „Bitte, hilf mir. Du musst etwas tun! Ich mach alles, was du willst, wenn du mir nur Neues kaufst“, kommt es von der Toilette her. Neues, damit meint X wohl das magische Wort. Klopapier.
Ein Blick auf die Uhr, 22.12 Uhr. Das sind genau 720 Sekunden zu spät, denn um zehn hat auch der letzte der drei Supermärkte endgültig geschlossen. Ob sie ein Kissen oder eine Decke möchte, frage ich Person X. Na ja, Decke ist vielleicht eher ungünstig, aber ein Kissen bringe ich noch kurz vorbei, bevor ich gute Nacht sage und ins Bett gehe. Morgen wird immerhin ein wichtiger Tag und ich muss meine Kräfte schonen.
Mein Wecker klingelt genau um 4.45 Uhr. Das mit dem Schlafen hat nicht so gut geklappt. Albträume. Die Mumien, die mich sonst immer in meinen Träumen verfolgen, wurden dieses Mal selbst verfolgt und zwar von mir. Ihre Bandagen aus Klopapier haben sich abgewickelt und fast hätte ich sie erwischt, doch da, genau in diesem Moment, klingelt mein Wecker.
Sofort springe ich aus dem Bett und stehe vor der schwierigen Wahl, die richtige Kleidung zu finden. Unterwäsche, eine Hose, zwei lange T-Shirts unter einem Pullover, zwei Paar Socken und meine Winterhandschuhe. Kommt noch dazu der selbstgenähte Mundschutz und eine große Mütze, die ich mir im Ernstfall bis über die Nase ziehen kann. Sollte ich mein Desinfektionsmittel mitnehmen? Oder ist die Gefahr doch zu groß, dass es geklaut wird?
Es ist inzwischen 5.30 Uhr, als ich mit meinem langen Mantel und Gummistiefeln bekleidet vor der Haustür stehe. Das Desinfektionsmittel in meiner Tasche.
Eine Viertelstunde später reihe ich mich in die Schlage vor den Türen des Supermarkts ein. Immerhin bin ich die Dritte. Mit dem Abstand, der zwischen den ersten beiden Personen ist, könnte ich mich eigentlich auch dazwischen stellen. Doch so wichtig ist mir X dann doch nicht. Ich bin doch nicht lebensmüde!
Um acht. Die Türen gehen auf, und ich zähle innerlich runter: Auf die Plätze, fertig, los. Ich fange an zu schwitzen. Gut, das kommt vielleicht weniger vom Tempo, das ich nun vorlege, als von der Wärme meiner Kleidung. Angespannt bin ich trotzdem. Rein in den Gang, rechts links links geradeaus. Mist, jemand ist schon in dem Gang. Eine ältere Frau guckt mich ganz empört an und schnell gehe ich ein paar Schritte rückwärts und verlasse den Gang. Zu zweit einen Gang teilen, das wäre ja schon fast, als wollte ich unbedingt Duweißtschonwas bekommen.
Also nehme ich den Umweg über die Nudelabteilung, die erstaunlicherweise leer ist. Ha, das Warten war also nicht umsonst. Schnell schaufele ich mir drei Packungen Spaghetti in den Korb. Ach, wenn ich schon einmal hier bin. Ein Blick über meine Schulter, ich bin ungestört. Drei weitere Packungen landen neben den anderen.
Gleich bin ich bei IHM, nur zwei Gänge weiter. Ich biege in den Gang, doch genau in dem Moment kommt ein Mann Mitte dreißig von der anderen Seite. Er erstarrt, ich erstarre. Wir gucken uns in die Augen und die Zeit scheint stillzustehen. Dann renne ich plötzlich los, setze alles auf eine Karte. Es funktioniert, der Mann verschwindet, ganz so, als hätte er es sich plötzlich anders überlegt. Da liegt es. Drei Packungen Klopapier. Beim Vorbeigehen reiße ich aus Versehen mit meinem Korb den Zettel ab, auf dem steht: Nicht mehr als zwei Packungen pro Haushalt.
Mit meinem Schatz suche ich nun den sichersten Weg zur Kasse, wo praktischerweise keiner in der Schlage steht. Ich lege meinen Einkauf aufs Band und überlege, ob ich lieber schmutziges Kleingeld oder ein verpestetes Kartenlesegerät anfassen möchte. Meine Schutzhandschuhe habe ich leider zu Hause vergessen. Nun stellt sich doch noch jemand hinter mir in die Schlange, es ist der Mann von eben.
Gerade entscheide ich mich für das Kleingeld, als die Verkäuferin sich räuspert und auf meinen Einkauf zeigt. Nein sage ich, da wäre kein Zettel gewesen. Gespielt dramatisch huste ich mir die Seele aus dem Leib und sie zuckt die Achseln und lässt mich bezahlen.
Auf dem Weg zum Auto schaut mich eine Mutter so vorwurfsvoll an, dass ich beinahe ein schlechtes Gewissen bekommen hätte. Beinahe. Ich stolziere an ihr vorbei und rufe noch über meine Schulter: „Also bei mir gibt es heute Nudeln.“
Etwas später stehe ich vor der Haustür und will aufschließen. Doch als ich in meiner Tasche nach dem Schlüssel wühle, fällt mir auf, dass sie merkwürdig leer ist. Etwas fehlt. Das Klopapier. Jetzt fällt es mir siedend heiß ein, der Mann aus dem Klopapiergang. Er hatte mich so seltsam angesehen… Schätze, X muss sich doch noch ein wenig gedulden…